Lost & Found

Eintrag in die Chronik Ceirdwyns:

01. April 2002, ca. 11.30 Uhr, Flughafen Madrid Barajas
    – Kontakt verloren

***

Prolog:

Unzählige Menschen wuselten um sie herum, doch sie stand als ruhender Punkt inmitten der Massen. In der Hand hielt sie ein Flugticket, doch nun starrte sie unschlüssig darauf. Hatte er Recht mit seinem Rat? Und wie sollte sie das überhaupt anstellen?

Plötzlich rempelte sie jemand an, entschuldigte sich in gebrochenem Spanisch und hastete weiter. Ceirdwyn starrte auf den Koffer, den er eilig hinter sich herzog und der voller Aufkleber der bisherigen Reiseziele seines Besitzers war. Ein Name fiel ihr ins Auge, der eine Flut aus Erinnerungen auslöste. Und plötzlich wusste sie, was sie tun würde. Mit neuer Energie wandte sie sich um und suchte einen Plan des Flughafens...

***

Mittwoch, 03. April 2002

07.02 Uhr

Ein an- und abschwellendes Piepen macht mich langsam wach. Elaine knufft mich in den Arm. "Nun geh schon ran!" Dann dreht sie sich um und begräbt ihren Kopf unter dem Kopfkissen. Ich öffne vorsichtig die Augen und blinzele. Ohne es zu wollen fällt mein Blick auf den Radiowecker. 'Mist!' Was macht das? Viereinhalb Stunden?

Aber es hilft nichts, wer auch immer da anruft, meint es wohl ernst. Ich quäle mich aus dem Bett und suche genervt von dem Klingeln nach meinem Handy. Hosentasche – Fehlanzeige. In meiner Jacke, auf der Sessellehne, werde ich fündig.

"Ja?" melde ich mich verschlafen und versuche mit der freien Hand, meine Augen wach zu massieren. Mein Blick fällt auf das Beobachter-Tattoo – manchmal bereue ich wirklich, dass ich hier angeheuert habe.

"Martin? Sie ist weg, sie haben sie verloren!"

Ich zähle im Geist langsam bis drei und stelle dann die unvermeidliche Frage: "Wer ist weg, Lucas?" Mein Partner treibt mich manchmal wirklich in den Wahnsinn mit seiner Art, sich jede Information aus der Nase ziehen zu lassen.

"Ceirdwyn! Ihre Beobachterin hat sie am Flughafen verloren. Sie hat keine Ahnung, wo Ceirdwyn jetzt ist."

Mir entfährt ein beeindruckter Pfiff. Ceirdwyn ist nicht irgendeine Unsterbliche, sie gehört zu den ältesten von ihnen. So jemanden möchte man nicht auch nur für eine Woche verlieren.

"Ok", seufze ich. "Bin schon unterwegs." Mit einem bedauernden Blick auf die interessanten Kurven unter der Decke sammele ich meine verstreuten Sachen zusammen. Bevor ich ins Bad husche, rufe ich Lucas noch einmal an.

"Lucas? Du weißt, dass ich dir den Hals umdrehe, wenn das ein verspäteter April-Scherz ist, ja?"

07.33 Uhr

Eine schnelle Dusche, zu mehr hat es nicht gereicht. Der Kaffee wird warten müssen, bis ich in der Black Box bin. Langsam gehe ich über den Campus, so früh am Tag ist es noch relativ ruhig. Nur einige Unglückliche verlassen genau wie ich die Studentenunterkünfte, die meisten in Richtung Hauptgebäude. Hinter dem kleinen Wäldchen sehe ich die Häuser Genfs, die Watcher Training Academy liegt ein wenig erhöht an einem Hügel am Rand der Stadt. Ich biege vom Weg ab und gehe zur Rückseite des Hauptgebäudes. Ich hätte mir das ja nie träumen lassen, aber nach einigen Monaten fühle ich mich hier in Genf recht wohl. Und mit einem Gedanken an die vergangene Nacht danke ich demjenigen, der beschlossen hat, die IT-Abteilung der Beobachter nicht im Hauptquartier, sondern hier an der Akademie anzusiedeln...

Ich fische meine Key-Card aus der Hosentasche und öffne die Tür, die in die Kellerräume des Seitentraktes führt. Wir nennen unser Domizil hier unten scherzhaft die "Black Box", denn als wir es damals im Oktober bezogen haben, kam gerade die dunkle Jahreszeit und damit praktisch kein Tageslicht mehr durch die kleinen Fenster. Aber man will sich ja nicht beklagen, das Büro ist recht geräumig, die Rechner haben es schön kühl und was das Beste ist: Niemand stört uns.

"Morgen", murmele ich in Lucas' Richtung und gehe als erstes zum Wasserkocher. Langsam tauen meine Finger wieder auf, draußen ist es verdammt kalt so früh am Morgen. Wasser aufsetzen, Tasse, Cappuccino – vorher bin ich ohnehin nicht ansprechbar.

Lucas kümmert das nicht, er beginnt das Briefing sofort und ruft mir über den halben Raum hinweg zu: "Gestern Abend bekam der Regional Coordinator Western Europe einen Anruf von Debra Adkins aus Madrid. Sie meldete, dass sie den Kontakt zur Unsterblichen Ceirdwyn verloren hat." Lucas wird lauter, denn das Wasser kocht langsam. "Adkins ist Area Supervisor in Madrid", schreit er mir nun fast zu. Ich tue ihm den Gefallen und gehe zu seinem Schreibtisch rüber. "Wenn sie so etwas meldet, ist es ernst. Naja, jedenfalls hat Western Europe das diesmal gleich an uns weitergeleitet. Die Reagan Cole-Aktion hat sich scheinbar rumgesprochen."

Lucas grinst bei der Erinnerung an unseren ersten großen Erfolg. Mitte Januar verschwand Reagan Cole, ebenfalls eine der aktiveren Unsterblichen, spurlos. Beobachter auf der ganzen Welt hielten nach ihr Ausschau, wochenlang. Als endlich jemand auf den Gedanken kam, diesen Fall auch an interne Abteilungen wie uns weiterzuleiten, brauchten wir gerade mal zwei Tage, um unsere Kopfgeldjägerin aufzuspüren – beim Urlaub auf Martinique. Seit diesen Tagen hängt an der Tür der Black Box ein Schild mit der Aufschrift "Lost & Found".

"Ceirdwyn also", meine ich nachdenklich. "Na gut, such schon mal ihre Daten zusammen." Zeit für den Cappuccino. Lucas wendet sich wieder seinem Rechner zu, während ich dem Beginn des Tages entgegen sehe.

08.16 Uhr

Lucas und ich sind die Datei von Ceirdwyn durchgegangen. Sowohl ihre offizielle Beobachter-Datei als auch unsere persönlichen Notizen, die wir über jeden Unsterblichen anlegen. "Also", fasst Lucas zusammen. "Am 28. März buchte Ceirdwyn wie erwartet einen Flug nach Paris. Seit sie vor sechs Jahren nach Madrid gezogen ist, fliegt sie einmal im Jahr nach Paris, immer Anfang April."

"Ihr Ehemann, Steven Jarmel", murmele ich mit Blick auf ihr File. Er war 1995 Anfang April erschossen worden. In Paris.

"Genau. Debra Adkins hat also nichts anderes erwartet und war am Montag zusammen mit der Unsterblichen am Flughafen. Und da hat sie sie dann verloren, während der Wartezeit auf das verspätete Flugzeug."

"Aber wir wissen, welchen Flug sie gebucht hat. Wieso wurde sie dann nicht in Paris in Empfang genommen?"

"Hat man versucht, doch sie war nicht in dem Flugzeug."

"Und ihr Gepäck?"

"Auch nicht. Obwohl es natürlich sein kann, dass das nur den normalen Weg nach Murmansk gegangen ist." [1] Gott, am frühen Morgen konnte Lucas wirklich anstrengend sein. Ich grinse gekünstelt, der Cappuccino hat mich nicht wirklich wach gemacht.

"Quickening?" Die Frage stellt sich normalerweise immer zuerst.

"Nein, keinerlei Anzeichen. Nicht im näheren Umkreis des Flughafens jedenfalls. In den lokalen Medien war auch nichts zu hören, was auf ein Quickening oder den Fund einer kopflosen Leiche hindeutet. Und keine Berichte von anderen Beobachtern in der Gegend."

"Tja..." Das macht es etwas kniffelig, aber deswegen arbeiten wir ja nun auch an dem Fall. "Ich nehme mal nicht an, dass sie zu Hause wieder aufgetaucht ist?" Lucas sieht mich an, als wolle er sagen 'Ich bitte dich!'. "Schon klar, sie hat keine der Pizzen angenommen." Das ist ein Standard-Trick in einem solchem Fall, man versucht einfach eine nicht bestellte Pizza auszuliefern.

"Wenn sie auf Handys stehen würde, wäre alles viel einfacher", seufzt Lucas und grinst schon wieder. Aus dem Grinsen kommt er gar nicht mehr raus, sobald er auf dieses Thema zu sprechen kommt. Zugegeben, dieser Einfall war genial und könnte in gewissen Grenzen die Arbeit der Beobachter revolutionieren. Lucas, von seiner Schauspielfähigkeit überzeugt, hatte es sich auch nicht nehmen lassen, persönlich in die Staaten zu fliegen und dem armen Benny Carbassa ein Handy zu verkaufen. So lange er es für hip genug hielt, würde er sicher nicht ins Innenleben schauen oder mal messen, auf welchen Frequenzen sein Handy so sendet. Seine Gesprächsmitschnitte füllen nun einige Megabyte jeden Tag. Zugegeben völlig sinnlose Aufzeichnungen, denn einen langweiligeren Unsterblichen als Benny kann man sich kaum vorstellen, aber es ist ein Anfang.

"Also gut, wurde ihr Arbeitsplatz abgecheckt?" Ich scrolle an meinem Rechner durch ihre Datei um zu sehen, was Ceirdwyn im Moment eigentlich tut. Kunstgalerie, aha.

"Hat sich für zwei Wochen abgemeldet und ist seitdem auch nicht mehr aufgetaucht", antwortet Lucas, der schon seit sieben Uhr Informationen über Ceirdwyn durchgesehen hat.

Ich sehe in unsere Notizen über sie. Handy – negativ. E-Mail – negativ. Netzzugang – negativ. Computer – negativ. Meine Güte, die alten Unsterblichen machen es einem wirklich nicht leicht! Ein Wunder, dass sie sich ein Telefon zugelegt hat.

"Wie steht's mit ihrer Kreditkarte?" schlage ich vor.

Lucas schüttelt den Kopf. "Ihre aktuelle Karte hat sie erst seit wenigen Wochen. Wir wissen noch nicht einmal, von welcher Firma sie ausgestellt wurde."

Mist! Jetzt wird es schwierig.

"Weißt du was?" meine ich zu meinem Kollegen. "Ruf Jenny an! Sie hat diese Woche zwar Urlaub, aber bei sowas ist sie doch immer sehr kreativ."

10.38 Uhr

Mittlerweile haben wir alle ihre bekannten Pseudonyme auf den Passagierlisten der letzten zwei Tage gecheckt. Nichts. Doch wenn sie Last Minute geflogen ist, steht sie nicht auf den im Netz verfügbaren (nun ja, zumindest für uns verfügbaren) Passagierlisten. Ihr Auto steht unberührt auf dem Parkplatz und in der Wohnung tut sich noch immer nichts.

Die Tür öffnet sich und Jenny kommt herein. Lucas schaut auf die Uhr und fragt scherzhaft: "Hattest du Gegenwind?" Jenny wohnt eigentlich nur zehn Minuten entfernt.

"Ich habe Urlaub, Lucas", antwortet sie ihm und geht zu ihrem Rechner hinüber. "Egal, welcher Unsterbliche gerade die Welt in Atem hält, ich habe diese Woche Urlaub." Das mag ich so an Jenny, es gibt Dinge in ihrem Privatleben, die sie über ihre Arbeit bei den Beobachtern stellt. Ein ausgiebiges Frühstück mit der Familie zählt scheinbar dazu.

"Also, dann weiht mich mal ein!" fordert sie uns auf. "Wer ist es diesmal?"

11.31 Uhr

"Jungs, Jungs, Jungs!" Jenny muss lauter werden, um uns zu übertönen, denn Lucas und ich werfen uns gerade wilde Spekulationen über diesen Fall an den Kopf. Manchmal führt so ein chaotisches Brainstorming tatsächlich zu einem Ergebnis. "Wie wär's, wenn wir zur Abwechslung mal logisch an die Sache herangehen?"

Wir sehen uns an und nicken dann. "Schieß los!"

"Also, sie ist nicht nach Paris geflogen, nicht mit diesem Flug. Sie ist auch nicht zu Hause oder mit ihrem Auto unterwegs. Wir nehmen erstmal an, dass sie Madrid verlassen hat. Richtig?"

"Yep!"

"Also, was bleibt da? Läuft sie jetzt zu Fuß durch Mittelspanien? Ist sie mit dem Zug unterwegs? Mit dem Auto oder Bus? Oder hat sie einen anderen Flug genommen?" Jenny malt die fünf Möglichkeiten auf ein großes Flipchart, das an einer Wand der Black Box steht.

Wir sehen uns an. "Sie war am Flughafen", antworte ich. "Also scheint es doch logisch, dass sie einen anderen Flug genommen hat."

Jenny nickt und unterstreicht diese Hypothese.

"Allerdings hat Western Europe schon alle in Frage kommenden Flüge und deren Zielorte überprüft, alles was an dem Tag von Madrid wegging", wirft Lucas ein.

"Nun gehen wir mal anders heran", fährt Jenny fort. "Warum ist sie nicht nach Paris geflogen? Sie tut es seit fünf Jahren regelmäßig wie ein Uhrwerk."

"Muss es sich anders überlegt haben", meint Lucas.

"Richtig", stimmt Jenny zu. "Und die Preisfrage ist: Warum. Vorschläge?"

Ich hebe scherzhaft die Hand und werfe ein: "Ich bin für Chinesisch."

Zwei verwunderte Blicke wenden sich mir zu und ich tippe auf meine Uhr. Langsam wird es Zeit für Mittagessen bzw. in meinem Fall erstmal Frühstück.

12.17 Uhr

Ich folge langsam dem Weg zum Hauptgebäude und schleppe dabei zwei bei einem nahen Chinesen gefüllte Plastiktüten vorsichtig den gewundenen Weg hinauf. Das hat wieder ewig gedauert, nach den Oster-Feiertagen brummt die Stadt richtig vor Leben.

'Feiertage', denke ich. Kann es das sein? Ein alter keltischer Feiertag, aufgrund dessen Ceirdwyn nun in Stonehenge sitzt und ein mystisches Feuer entzündet? Lucas wird das prüfen müssen, ich kenne mich mit sowas nicht aus.

Ich betrete schließlich die Black Box und finde Jenny und Lucas in ein Gespräch vertieft vor. Kein Wort zu verstehen, die zwei unterhalten sich schon wieder in Jennys Muttersprache. Ich muss zugeben, ich hasse es, wenn sie das tun. Trotz mehrerer Jahre Unterricht zu Schulzeiten ist mein Französisch grottenschlecht.

Ich verteile das Essen an die anderen, und Lucas fragt mich: "Können wir die Abrechnung später machen? Mein Konto ist im Moment ziemlich leergefegt."

"Klar, kein...", antworte ich, und da kommt mir eine Idee. "...Problem."

"Was ist? Eine geniale Idee gehabt?"

"Ja", beginne ich. Das ist tatsächlich vielversprechend. "Wir wissen nichts über ihre Kreditkarte, aber: Wenn sie etwas in den letzten paar Tagen damit bezahlt hat, dann wird sie doch am Monatsende sicher eine Abrechnung bekommen haben."

"Also müssen wir nur mal auf ihrem Konto nachsehen", ergänzt Jenny und lächelt.

14.41 Uhr

Wir haben uns die Arbeit geteilt. Lucas und Jenny checken alle Bekannten und Freunde von Ceirdwyn. Aus einem Anfall von Genialität heraus hat es Lucas auch übernommen, Unsterbliche zu überprüfen, mit denen Ceirdwyn noch eine Rechnung offen hat. Ich dagegen habe dem Server von Ceirdwyns Hausbank einen Besuch abgestattet und weiß nun, dass sie eine MasterCard besitzt. Das ist ein guter Anfang, und da diese sicher unter ihrem aktuellen Pseudonym laufen wird...

In diesem Moment hallt ein Schrei durch den Raum. "Martin!" Lucas, der gerade etwas notiert, zuckt zusammen und macht vor Schreck einen Krakel über das halbe Blatt.

"Martin, Lucas, kommt rüber, das ist es", drängelt Jenny, ganz untypisch aufgeregt. Ich schnappe mir einen freien Stuhl und ziehe ihn rüber zu Jennys Rechner. "Was gibt's?"

"Matthew McCormick", meint sie und deutet auf dessen File auf ihrem Monitor. Ich brauche ein paar Sekunden, bis ich den Namen zuordnen kann. "Ceirdwyn war sein Mentor, oder? Sind die zwei noch befreundet?"

"Sind sie", bestätigt Jenny. "Und sie haben sich an dem fraglichen Tag getroffen."

"Aber das wurde doch von unseren Feld-Kollegen sicher überprüft, oder?" wirft Lucas zweifelnd ein, der nun ebenfalls näher rückt.

"Schön wär's, aber seht euch das mal an." Sie öffnet ein anderes File, einen täglichen Statusbericht des Feld-Beobachters Timothy Hersey. "McCormick und sein Partner Hersey waren in einem Fall von Rechtshilfe in Südafrika. Rückflug am Montag."

"Südafrika ist eigentlich 'ne Ecke weg von Spanien", bemerkt Lucas, doch ich beginne zu ahnen, worauf Jenny hinaus will.

"Rückflug über Europa?" frage ich sie und sie nickt.

"Agent Hersey geht in seinem Bericht auf keine Details ein, er schreibt nur, dass er aus FBI-internen Gründen einen Flug früher genommen hat. Er hat jedoch McCormick am Abend des ersten Aprils pünktlich in DC abgeholt. Der Flug ging über London."

Jenny öffnet eine Website, eine Wetterkarte von Europa. "Nun seht euch das mal an. Mittag des ersten Aprils. Erinnert ihr euch an das Unwetter?" Da hat sie Recht, am Ostermontag war das Wetter recht ungemütlich. Und der Karte zufolge hat es über dem Ärmelkanal ein noch viel größeres Unwetter gegeben.

Jenny tippt darauf und spricht weiter: "Sein Flug hätte über London gehen sollen, aber wegen des Unwetters wurde die Maschine über Madrid umgeleitet. Ich habe es überschlagen, die Chancen sind exzellent, dass er genau zur gleichen Zeit wie Ceirdwyn dort auf den Weiterflug gewartet hat."

"Und sein Beobachter hat sich nicht die Mühe gemacht, dieses kleine Detail seinem Bericht hinzuzufügen", gebe ich eine Vermutung ab.

"Genau!"

14.54 Uhr

Ich warte auf den Rückruf von Agent Hersey, als das Telefon klingelt. Doch es ist kein Gespräch aus den USA, sondern eine Campus-interne Nummer.

"Hallo, hier spricht Professor Chenard. Ich hab da mal ein kleines Problem."

'Oh Nein!' ist mein erster Gedanke. Nicht sie schon wieder. "Und das wäre?" Vermutlich könnte ich freundlicher klingen, aber heute gebe ich mir wirklich keine Mühe, Verständnis zu heucheln.

"Meine E-Mail funktioniert nicht mehr, ich kann nichts mehr abrufen."

Ich verwette meinen Rechner, dass ich weiß woran es liegt. "Haben Sie die Sicherheitseinstellungen Ihres E-Mail-Programmes geändert, so wie ich es letzte Woche in meiner Rundmail beschrieben habe?" Die Beobachter-Mailserver, für deren Betreuung unser kleines Team neben der Unsterblichen-Jagd verantwortlich ist, unterstützen nun eine höhere Verschlüsselung der Kommunikation.

"Rundmail? Ich hab keine Rundmail bekommen. Was muss ich da denn machen?"

'Hast du doch!' Und laut: "Wissen Sie was, ich schick Ihnen die Mail einfach noch mal." Der Witz hat einen Bart wie Methusalem, aber ich will ihn schon anbringen, seit ich hier angefangen habe. "Sind nur ein paar einfache Änderungen an den Einstellungen Ihres E-Mail-Clients. Schönen Tag noch."

Damit lege ich auf und beginne leise zu zählen. Bei sieben klingelt es erneut, doch ich lege das Gespräch zu Lucas rüber. Soll der sich mit ihr herumärgern.

Inzwischen fällt mir ein, woran ich gar nicht gedacht habe, als ich Agent Hersey vorhin eine Nachricht hinterlassen habe: In Washington ist es jetzt ja eine ganze Ecke früher... 9 Uhr etwa?! Ich hoffe mal, der gute Hersey beginnt bald seinen Arbeitstag. Derweil wende ich mich einigen Bank-Servern zu. Es muss sich doch rauskriegen lassen, was Ceirdwyn in den letzten Tagen mit ihrer Karte bezahlt hat.

15.30 Uhr

McCormick hat also keinen Hinweis auf eine Begegnung mit Ceirdwyn gegeben, nichts Ungewöhnliches sei zu melden, meinte Hersey gerade. Das hätten wir uns auch denken können, aber nachfragen kostet ja nichts. Ich arbeite weiter an dem MasterCard-Server, während Jenny mit ihrer kleinen Tochter telefoniert.

17.54 Uhr

Langsam macht sich Müdigkeit in unseren heiligen Hallen breit. Lucas gähnt herzhaft, Jenny schaut öfter auf die Uhr als auf ihren Monitor und auch ich bin vom Verlauf dieses Tages nicht unbedingt begeistert. Die Sicherheitsvorkehrungen des Servers erweisen sich als erschreckend gut, seit über zwei Stunden suche ich vergeblich nach einer Schwachstelle.

Jenny kommt rüber geschlendert und fragt: "Wie sieht's bei dir aus?"

"Nicht gut", antworte ich und nippe an meinem Tee. In diesem Moment ruft Lucas zu uns rüber: "Ich hab sie!" Das macht uns neugierig und wir rücken an seinem Rechner zusammen. Auf dem Monitor ist ein verwaschenes Standbild zu sehen und... ja, die Frau darauf könnte Ceirdwyn sein.

"Woher hast du das?" fragt Jenny und ist nicht weniger erstaunt als ich. In den letzten Stunden haben wir beide nicht sehr darauf geachtet, was Lucas tat.

"Oh, ganz einfach", erklärt er stolz. "Wisst ihr noch, Martin hat doch letztens so einen Klassifikator für Personen geschrieben." Er untertreibt mal wieder maßlos, daran habe ich mehrere Monate gearbeitet.

"Nun, ich hab mich jedenfalls mal auf dem Server der Flughafen-Polizei umgesehen. Staatliche Institutionen sind immer so schön einfach zu hacken", freut er sich. "Hab ein kleines Programm wahllos Screenshots aus den Aufzeichnungen der Sicherheits-Kameras vom fraglichen Zeitpunkt ziehen lassen und den Klassifikator mit den Merkmalen Ceirdwyns drüber gejagt. Et voilá, hier betritt sie gerade ein Geschäft."

"...aria Re...", entziffere ich die pixelige Schrift über der Glastür, die nur zur Hälfte zu sehen ist. Es dauert nur ein paar Sekunden, dann hat Jenny die Firma auf dem Flughafen-Plan gefunden. "Avaria Rental, unterste Ebene. Kein Wunder, dass Debra Adkins Ceirdwyn da unten nicht gefunden hat."

"Wieso mietet sie sich ein Auto, wenn ihr eigener Wagen auf dem Parkplatz steht? Muss ich das verstehen?" fragt Lucas.

"Der logische Schluss ist dann wohl, dass sie ein bestimmtes Auto braucht", meine ich, und Jenny fügt hinzu: "Oder kein Auto, sondern ein Motorrad." Sie hat die Website der Firma aufgerufen. Vermietung von Autos und Motorrädern, heißt es da schon auf der Startseite. Sie sucht noch eine Weile und kommt dann zu dem Schluss: "Avaria sind am Flughafen Madrid die einzigen, die auch Motorräder vermieten."

Wir hängen für ein paar Sekunden alle unseren Gedanken nach, bis ich plötzlich eine Eingebung habe. "Motorrad? Spanien? Da war doch was." Zurück an meinem Rechner scrolle ich erneut durch Ceirdwyns File. Jenny tritt hinter mich und ruft mit Steuerung+F die Suchmaske auf. Ich muss grinsen, warum komme ich auf die naheliegenden Ideen nicht selbst? 'Motorrad'... da ist es!

"Ihre Flitterwochen mit Steven Jarmel – sie sind mit zwei schweren Motorrädern durch Süd-Spanien gefahren", murmelt Jenny beeindruckt, während sie den entsprechenden Eintrag der Chronik überfliegt.

19.12 Uhr

"Vielleicht sollten wir die Sache einfach Western Europe melden und als abgehakt betrachten", schlägt Jenny vor. "Ich meine, wenn sie sich an die Route der damaligen Reise halten, werden sie sie schon irgendwann wieder aufgabeln."

Irgendwie erscheint mir das unpassend. "Ich weiß nicht, wir haben einen Ruf zu verlieren. Ich würde dem Coordinator lieber eine genaue Angabe machen können."

"Na gut, weißt du was? Ich bin fertig für heute. Den Rest kriegt ihr doch auch ohne mich hin, oder?" Und damit steht Jenny auf, fährt ihren Rechner runter und rauscht zum Abschied winkend hinaus. Ich bin für einen Moment perplex, doch dann kommt Lucas endlich wieder. "Die hat es aber eilig", murmelt er.

"Hast du das Buch?" will ich nur wissen. Er nickt und schwenkt ein in einen unscheinbaren, blauen Einband gebundenes Buch. Die Ceirdwyn-Chronik, zwanzigstes Jahrhundert, Band 2. Die Chronik, die uns online zugänglich ist, wird in den Details vor allem vergangener Jahrzehnte etwas vage, aber zum Glück besitzt die Bibliothek der WTA Kopien der Chroniken einiger wichtiger Unsterblicher.

"Ich musste die ganz schön beknien, mir das Buch mitzugeben. Die verleihen ja nichts", meint Lucas, während ich in der Chronik blättere. 'August 1983, da haben wir es ja.' Ich kritzele die Stationen der Flitterwochen-Reise auf einen Zettel und überschlage die Entfernungen im Kopf.

"Sevilla! Wenn nicht irgendwas ganz verkehrt ist, sollte sie jetzt in Sevilla sein. Dort haben sie damals ihre Flitterwochen begonnen." Ich grinse Lucas an und er grinst zurück. "Willst du oder soll ich?" frage ich ihn und deute auf das Telefon.

"Eigentlich wäre ja Jenny dran, aber mach ruhig. Ich muss erstmal wieder auftauen."

"Ok", meine ich und greife mir das Telefon. Im regionalen Hauptquartier Western Europe hat man mittlerweile eine Gruppe zusammengestellt, welche die Suche nach Ceirdwyn leitet, wie wir heute Mittag per Mail mitgeteilt bekamen. Trotz der Uhrzeit geht sofort jemand ans Telefon.

"Jean Deslauriers. Ja?"

"Hier Martin Malvin, IT-Abteilung Genf. Ich rufe wegen der Ceirdwyn-Sache..."

"Oh, das hat sich so gut wie erledigt", unterbricht er mich. "In London wurde eine Unsterbliche gesichtet, deren Identifizierung fast..."

"Sie ist in Sevilla", unterbreche ich ihn meinerseits. Für einen Moment ist er still.

"Sevilla? Wie kommen Sie denn darauf?"

"Sie war am Flughafen bei einer Autovermietung. Wir denken, dass sie ein Motorrad ausgeliehen hat und die Stationen ihrer Hochzeitsreise von 1983 nachfährt. Wenn das hinkommt, sollte sie jetzt in Sevilla sein."

"Sevilla, so." Nach unserem Erfolg mit Reagan Cole sind die hohen Herren mit Sätzen wie "Das ist ja absurd!" vorsichtig geworden, doch ich spüre, dass es ihm auf der Zunge liegt.

"Viel Glück bei der Suche", meine ich und unterbreche das Gespräch.

19.31 Uhr

Wir haben die Workstations runtergefahren, nur die Server summen noch fröhlich vor sich hin. Ich kontrolliere schnell Ammaletu, den ersten Server, den wir damals angeschafft haben und der deswegen nach dem mythischen ersten Beobachter benannt wurde. Aus Chicago erreicht uns gerade eine weitere Audio-Datei, ein automatischer Prozess legt eine Text-Version von Bennys Telefonat an. Ich schalte auch diesen Monitor aus und gehe dann zu Lucas, der schon fertig ist.

"Lust auf einen Cocktail?" fragt er mich.

"Ich weiß nicht, der Tag war ganz schön lang."

"Na komm, noch ist Happy Hour im Marais", versucht er mich zu begeistern. "Und vielleicht kannst du ja die Mädels von letzter Woche einladen? Mit der kleinen Blonden hab ich mich wirklich super verstanden, aber sie hat vergessen, mir ihre Telefonnummer zu geben."

Während wir die Tür der Black Box ins Schloss fallen lassen und die drei Stufen in die kalte Abendluft hinauf steigen, sehe ich Lucas für einen Moment an, zweifelnd ob er das ernst meint oder nicht. Doch dann überzeuge ich ihn, dass wir besser morgen erst auf unseren Erfolg anstoßen, wenn wir nicht die einzigen sind, die davon wissen. Und natürlich wenn sich herausgestellt hat, ob wir mit unserer Vermutung richtig liegen.

20.12 Uhr

Endlich zu Hause. Mein Magen knurrt ordentlich und mir fällt auf, dass ich seit dem frühen Nachmittag meine E-Mails nicht mehr abgerufen habe. Zuerst einmal sinke ich jedoch entspannt auf die Couch. Mein letzter Gedanke für diesen Tag dreht sich um die Frage, ob wir es mit Aktionen wie der heutigen wohl schaffen werden, "Beobachter des Jahres" zu werden. Dann bin ich weg...

***

Epilog:

Sie saß auf einer Bank und lauschte den Kathedralen-Glocken, die zehn Uhr schlugen. Ihr war kalt, doch sie konnte den Blick nicht abwenden. Der Platz vor der Kathedrale war von unzähligen Kerzen und Fackeln erleuchtet und trotz der Kälte standen die Menschen in Gruppen herum und lauschten der Musik der Band. Einige tanzten und Ceirdwyn hörte immer wieder fröhliches Lachen.

Heute Abend war sie kein Teil des Trubels, sie beobachtete nur. Aber in Gedanken weilte sie in einer Zeit vor zwanzig Jahren, als sie und Steven selbst die ganze Nacht durch die Straßen Sevillas getanzt waren.

'Matthew hat Recht gehabt', dachte sie. 'Er kennt mich doch besser als ich es gedacht hätte.'

Stevens Leben zu zelebrieren und nicht seinen Tod, das war es, was er ihr bei ihrem kurzen Treffen am Terminal geraten hatte. Und Ceirdwyn wusste nun, dass es die richtige Entscheidung gewesen war, denn sie fühlte sich heute Steven viel näher als all die Jahre zuvor an seinem Grab.

Langsam stand sie auf und schlenderte zu dem großen Springbrunnen in der Mitte des Platzes hinüber. Aus ihrer Tasche holte sie die Kerze, die sie am Nachmittag gekauft hatte, entzündete sie an einer Flamme und stellte sie auf den Rand des Brunnens, zu mehreren Dutzend anderer Kerzen. Sie sah auf den Schein der Flamme, der sich im Wasser brach, und nahm in Gedanken Abschied von Steven, wie sie es jedes Jahr tat. Und dieses Jahr tat es nicht halb so weh.

'Ob der Baum in Cartagena noch steht?' fragte sie sich, während sie der Musik lauschte. 'Und das kleine Restaurant in Málaga...'

Ja, es gab viel zu entdecken, wiederzuentdecken. Leise summend wandte Ceirdwyn sich um und trat den Weg zu ihrem Hotel durch die engen Gassen Sevillas an.

***

Eintrag in die Chronik Ceirdwyns:

04. April 2002, ca. 16.45 Uhr, Altstadt von Sevilla
    – Kontakt wiederhergestellt



(c) by Johannes Freudendahl     https://ammaletu.de

Anmerkungen:

Die Story spielt im Highlander-Universum.

Diese Story hat beim Schreiben mal wieder einiges an Eigenleben entwickelt. Begonnen hatte ich mit der Idee, eine Geschichte á la "Bastard Operator From Hell" zu schreiben. Und ich fand den Gedanken interessant, dass eine Spezialabteilung der Beobachter die Unsterblichen mit modernen Mitteln im Auge behält bzw. ggf. wiederfindet. Der zynische Unterton von BOFH ist relativ schnell verschwunden, aber eine etwas lockere Sprache, die Ich-Perspektive und die Erzählung in Gegenwartsform sind erhalten geblieben. So wie sie jetzt aussieht, erinnert meine Geschichte vielleicht auch etwas an "24".

Zugleich entwickelte sich die Geschichte um Ceirdwyn beim Schreiben. Das kam alles relativ spontan, Matthew McCormicks Beteiligung oder der Gedanke, dass Ceirdwyn nach Stevens Tod tatsächlich nach Madrid gezogen sein könnte (Wir erinnern uns: Zehn Minuten vor seinem Tod wollte Steven sie noch überreden, nach Madrid zu ziehen, doch ihr gefiel es in Paris besser.).

Anmerkung: Der Satz über Murmansk ist mal wieder eine kleine Anspielung auf Douglas Adams und zwar auf den zweiten Dirk Gently-Roman "Der lange dunkle Fünfuhrtee der Seele", wo es heißt: "Es kann kaum ein Zufall sein, dass es in keiner Sprache der Welt die Wendung *schön wie ein Flughafen* gibt. Flughäfen sind hässlich. Manche sind sehr hässlich. Manche erreichen ein Ausmaß an Hässlichkeit, das nur das Resultat besonderer Kraftanstrengungen sein kann. Diese Hässlichkeit kommt zustande, weil Flughäfen mit Menschen angefüllt sind, die müde und verdrossen sind und gerade festgestellt haben, dass ihr Gepäck in Murmansk gelandet ist (Murmansk ist die einzige bekannte Ausnahme dieser ansonsten unerschütterlichen Regel), [...]" :-)

Bekannte Unsterbliche in dieser Geschichte:
Ceirdwyn  |  Reagan Cole, Benny Carbassa, Matthew McCormick

Dank fürs Beta-Lesen geht an:
Aisling und Enni

Geschrieben: 30. / 31. Jan 2004  |  Wörter: 4.271